Christoph Harting: Vom Ghetto in den Spitzensport (2024)

Die Brüder Harting gehören zur Weltklasse im Diskuswurf. Christophs Goldmedaille in Rio ist ein weiterer Höhepunkt in einer Familiengeschichte, die zur Verfilmung taugt.

Von Christof Siemes, Rio de Janeiro

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Vermutlich dürfte die Familie Harting inzwischen die ersten Anfragen zur Verfilmung ihrer Lebensgeschichte haben. Sie beginnt in einer kleinen Plattenbauwohnung in Cottbus-Sachsendorf, fünfter Stock, ohne Fahrstuhl. Hier wuchsen die Brüder Robert und Christoph Harting auf, deren olympische Geschichte am High Noon des 13. August 2016 im Olympiastadion von Rio de Janeiro ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Seither hat die Familie Harting zwei Goldmedaillen im Diskuswurf in ihrem Besitz.

Als Ghetto hat Robert, der ältere der beiden, sein altes Zuhause einmal bezeichnet, inzwischen wurde es abgerissen. Mit 15 geht er aufs Sportinternat nach Berlin, da ist sein Bruder erst 9. Sie verlieren sich etwas aus den Augen, aber Jahre später kommt auch der Jüngere nach Berlin. Es scheint zwischen den Brüdern nicht immer einfach zugegangen zu sein, nicht nur, weil schon äußerlich Christoph mit seinen roten Haaren eher nach Oma Gretel kommt, während Robert der Oma väterlicherseits, Renate, folgt.

"Ich habe für ihn die Erziehungsrolle beansprucht und ihm viele Dinge aufdiktiert", hat Robert in einem der unterhaltsamen Doppel-Interviews, die die Brüder geben, der Bild-Zeitung erzählt. "Ich habe eben versucht, es so zu machen, wie ich dachte, dass man so was macht. Was zu Aversionen bei ihm geführt hat." Der Jüngere erlebte ihn wie einen Propheten, "ein Lehrer, der alles besser weiß – und Lehrer mochte ich noch nie. Ich hab’ es gehasst, weil er alles besser wusste."

Dennoch wird auch er Diskuswerfer, wo ein Dasein im Schatten des Bruders unvermeidlich ist. "Aber die Eltern kommen aus dem Kugelstoßen und Diskuswerfen, und mir hat es Spaß gemacht, und meine körperlichen Voraussetzungen sind eben dafür am besten." So gut, dass Robert geradezu neidisch ist und ahnt, dass der Jüngere ihn irgendwann überholen wird. "Inzwischen ist er in allen Bereichen besser als ich", sagt Robert Anfang 2016, als er nach einem Kreuzbandriss verzweifelt um die Rückkehr zu alter Form kämpft. "Das ist eine neue Situation für mich. Er ist Deutscher Meister und war letzte Saison der Zweitbeste in der Welt. An ihm werde ich mich erst mal orientieren, das wird interessant."

Wie ein betrunkener Albatros

Mal gemeinsam "ein dickes Brett bohren", einen großen Wettkampf gewinnen, das wird das Ziel. "Er muss die Herausforderung des Überwindens annehmen", hat der Ältere dem Jüngeren einst geraten, "jeden Tag, jedes Jahr. Man fängt immer wieder mit 60 Metern an, das ist wie verhext. Und da musst du dich überwinden können, du musst kämpfen können. Aber wenn Christoph die nächsten zwei, drei Jahre so weiter trainiert, ergibt sich vielleicht die Möglichkeit, dass wir mal zwei Medaillen machen."

In Rio scheint es soweit zu sein, der Familienfilm steuert dem Höhepunkt entgegen. Beide sind qualifiziert, noch wenige Wochen vor den Spielen entreißt der Ältere dem Jüngeren erst im letzen Wurf den deutschen Meistertitel. Doch dann versucht Robert, verrückt war er immer, am Vorabend der Qualifikation, das Licht in seinem Zimmer im Olympischen Dorf mit dem Fuß auszumachen (hier empfiehlt sich für den Harting-Lebens-Film eine dramatische Untersicht). In den gewaltigen, aber auch schon reichlich verschlissenen Körper des Modellathleten fährt ein Hexenschuss. Die Beine sind beinahe taub, beim ersten Wurf eiert die Scheibe aus dem Ring wie ein betrunkener Albatros beim Startversuch, viel besser wird es nicht mehr – der Titelverteidiger scheidet aus.

Plötzlich raus aus den Medaillen

Und plötzlich steht der Jüngere nach all den Jahren in Roberts Schatten voll im Licht. Christoph Harting ist der zweitbeste Diskuswerfer weltweit in dieser Saison, aber hält er dem Druck stand? Demonstrativ gibt er sich locker. Als eine 16-köpfige Sambaband den Wettkampf unmittelbar vor dem Wurfkäfig trommelnd eröffnet, steht er minutenlang vor den Musikern, tanzend, klatschend, während sich seine Gegner lieber auf der überdachten Ruhebank verkriechen. "Ich brauche Rhythmus, ich liebe gute Musik", wird er später auf der Pressekonferenz sagen; viel mehr mag er über diesen Wettkampf nicht preisgeben, in dem er auch noch die Hypothek trägt, als erster der Favoriten werfen zu müssen.

62,38 Meter sind immerhin ein Anfang, 17 Zentimeter weiter als der große Bruder in der missratenen Qualifikation. Aber Piotr Małachowski, der polnische Hüne, an dem schon Robert oft genug verzweifelt ist, wirkt unantastbar. In seinem weißen Unterhemd, das über der roten Turnhose schlabbert, sieht der Pole so aus, als wolle er mal eben nur den Müll rausbringen. Aber dann wirft er den Diskus dreimal über 67 Meter weit, während sich Christoph Harting und der zweite Deutsche im Finale, Daniel Jasinski, auf Platz zwei und drei festsetzen. Die Luft scheint schon raus zu sein aus diesem Wettbewerb, zu heiß knallt die Sonne ins Olympiastadion, die Weiten gehen zurück. Doch mit den letzten Würfen der letzten vier Werfer wird noch einmal alles anders: Zunächst verdrängt der Este Martin Kupper die beiden Deutschen auf die Plätze drei und vier. Doch Jasinski kontert: 67,05 Meter - plötzlich ist er Zweiter und Harting raus aus den Medaillen.

Er wirft so weit wie nie zuvor

Und jetzt? Der Soundtrack des Harting-Thrillers braucht einen Trommelwirbel. Schon oft hat das Diskusland Deutschland erlebt, dass seine Werfer im entscheidenden Moment Schwäche zeigen. Aber was der kleine Bruder dann tut, wird in die Annalen der deutschen Sportgeschichte eingehen. "Das ist meine Bühne, mein Stadion, den Sieg nimmt mir keiner weg", sagt er sich – und wirft so weit wie nie zuvor, 68,37 Meter. Gold. Er folgt den Fußstapfen des großen Bruders, das gab es in der gesamten olympischen Geschichte noch nie.

Worte dafür hat er nicht, will er nicht haben. Nach der Ehrenrunde, die er barfuß zusammen mit Małachowski absolviert, flieht er aus der Mixed Zone, in der die Journalisten verzweifelt nach Statements suchen wie Goldsucher nach Nuggets. Die Pressekonferenz, zu der er verpflichtet ist, wird zur Farce. "Ich bin kein Medienhengst, ich beantworte ungern Fragen. Und was Sie über mich denken, ist mir total egal." Obwohl ein polnischer Kollege ihn versehentlich mit dem Namen des großen Bruders anredet, wird am Ende der Veranstaltung eines klar: Christoph Harting muss sich nie wieder damit auseinandersetzen, der kleine Bruder eines Olympiasiegers zu sein. Er ist jetzt selber einer.

"Hey, kleiner Bruder, der Generationenwechsel ist eingeleitet", gibt ihm der Ältere per Twitter mit auf den Weg. Auf die Frage, ob der Name Harting für ihn ein Vor- oder Nachteil sei, hatte Christoph vor einiger Zeit mit einer kleinen Geschichte geantwortet: "Wenn ein Vater mit seinem Sohn in den Park geht und der Kleine dann einen Baum bis zur Hälfte hochklettert, ist er der stolzeste Papa der Welt. Wenn dann ein paar Jahre später der zweite Sohn hochklettert – auch bis zur Hälfte – denkt der Vater: Na gut, habe ich schon mal gesehen. Um die gleiche emotionale Reaktion hervorzurufen, muss der zweite Sohn zwangsläufig höher klettern als der erste."

In Rio ist Christoph für's Erste auf Roberts Höhe angekommen. Aber noch ist der Harting-Film nicht zu Ende.

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